Holocaust-Überlebende : Warum ich nach Deutschland zurückkomme

BILD begleitet Sonia Kam auf ihrer ersten Reise in die alte Heimat und zu den Erinnerungen an die Verfolgung durch die Nazis

Quelle: BILD/Christin Wahl
Von: Antje Schippmann und Christin Wahl (Video)

Als in der Ferne eine Polizei-Sirene aufheult, zuckt Sonia Kam in ihrem Sitz zusammen und hält sich die Ohren zu. „Warum haben sie dieses Geräusch nicht geändert?“, fragt sie ängstlich. „Ich kann das nicht ertragen, es ist die gleiche Sirene, die damals die Gestapo hatte! Wir hatten solche Angst vor ihr, weil wir wussten: Wenn diese Sirene vor unserem Haus stoppt, ist es vorbei.“  

Sonia Kam ist 86 Jahre alt, gebürtige Dortmunderin und Holocaust-Überlebende. Als Kind wurde sie von einer Lehrerin in Belgien versteckt, gemeinsam mit ihrer Schwester überlebte sie mit falscher Identität. Der geliebte Vater, Shaul Birnberg, wurde in Auschwitz ermordet. 

81 Jahre lang war sie nicht mehr in ihrem Geburtsland, Deutschland war für sie tabu. Im Oktober 2017 kehrte sie erstmals zurück, und BILD durfte sie begleiten. 

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„Niemals wollte ich nach Deutschland zurückkehren, niemals, niemals!“, sagt Sonia Kam und schüttelt den Kopf. Der Grund ihrer Rückkehr: Ihr Schwiegersohn ist der neue israelische Botschafter in Deutschland. 

Seit zwei Monaten ist Jeremy Issacharoff im Amt. Seine Ehefrau Laura begleitete ihn nach Berlin. Und nun auch seine Schwiegermutter. 

„Als meine Tochter mich anrief, sagte sie, dass ich mich erst einmal hinsetzen soll. Dann sagte sie, dass sie nach Deutschland ziehen werde und dass ich sie besuchen soll – ich hatte also keine andere Wahl“, erzählt Sonia Kam.  

In Dortmund besuchte die Holocaust-Überlebende nun die Stätten ihrer Kindheit: den Park, in dem sie mit ihrer Schwester gespielt hat, die letzten Adressen ihrer Großeltern. Abraham Hacker, der Großvater, hatte eine Bürstenfabrik in Dortmund, die Großeltern lebten in der Nordstadt.

An ihrer alten Adresse – dem Geburtshaus von Sonia Kam – steht jetzt ein Zentrum für Jugendliche, mit Skatepark und Schwimmhalle. Das Haus steht schon lange nicht mehr. 

Beim letzten Besuch 1935 war Sonia Kam fünf Jahre alt. Sie erinnert sich, wie sie mit ihrer Schwester vom Spielen aus dem Park zurückkam und die Mutter ein Telegramm vom Vater bekommen hatte. „Wir sollten schnell zurückkommen nach Belgien, er hatte wohl das Gefühl, dass es brenzliger werde“, erzählt Sonia Kam.

„Meine Mutter versuchte meine Großeltern zu überreden, mit uns zu kommen, aber sie weigerten sich. ‚Wir sind Deutsche!‘, sagten sie. Sie dachten, dass ihnen nichts zustoßen werde.“ 

1940 müssen sie ihre Wohnung verlassen, 1941 werden sie ins Dortmunder Ghetto – ein kleines Lager aus Holzbaracken in einem Außenbezirk – gesteckt. Die Großmutter stirbt noch im Ghetto.

Der Großvater wird am 30. Juli 1942 aus Dortmund nach Theresienstadt deportiert, mit dem Transport X/I, gemeinsam mit 967 anderen Männern, Frauen und Kindern. Dort wird er am 19. April 1943 ermordet. Nur 90 Menschen aus diesem Zug haben den Holocaust überlebt, 878 wurden ermordet

Sonia Kam ist aufgeregt, als sie in Dortmund ankommt. Ist das der Park, in dem sie als Kind spielte? Stand hier ihr Geburtshaus?

„Ich habe mein ganzes Leben Geschichten von Dortmund gehört, es beeindruckt mich sehr, jetzt wieder hier zu sein. Nach 80 Jahren sieht man den Ort, an dem man geboren wurde, es ist unglaublich“, sagt sie. 

»Die Deutschen werden uns folgen, egal wo wir sind

„In Brüssel hatten wir ein gutes Leben“, erinnert sich Sonia Kam. „Meine Eltern hatten eine schöne Wohnung, für meine Mutter musste ich anfangs das Französische ins Deutsche übersetzen.“ Der Tag, an dem der Krieg nach Belgien kam, war ein schöner Tag im Mai, sagt Sonia Kam. Die Sonne habe geschienen, als sie die Flugzeuge sahen.

„Mein Vater setzte uns alle in ein Taxi und wir fuhren in dem Taxi bis nach Paris! Kurz vor der Grenze sagte mein Vater mir und meiner Schwester, dass er den Grenzsoldaten erzählen wird, dass unsere Mutter hochschwanger sei. Sie steckte sich ein Kissen unter die Kleidung und er gab vor, dass sie in den Wehen sei und schnell durchgelassen werden müsse.“ 

In Paris lebte die Familie drei Monate lang im Hotel, dann zogen sie nach Brest. Von dort aus ging der Vater auf ein Boot nach England – Frauen und Kinder durften nicht mit. 

Doch nach ein paar Tagen hörten Sonia und ihre Schwester einen Mann pfeifen, als sie draußen spielten. „Er pfiff so, wie mein Vater immer gepfiffen hatte! Und Tatsache, mein Vater war zurückgekehrt!“, erinnert sich Sonia Kam.

„Er wollte uns nicht alleine zurücklassen und sagte: ‚Wisst ihr was, es ist egal, wohin wir auch fliehen, die Deutschen werden uns folgen. Lasst uns zurück nach Hause gehen, zurück nach Belgien.‘“ 

Als die Familie in Brüssel ankommt, hing ein großes Schild von der Gestapo an der Tür, „Kein Eintritt, Eigentum der Gestapo.“ Der Vater, gebürtiger Hamburger, der perfekt Deutsch sprach, ging zur Kommandantur und verlangte die Wohnung zurück. „Und sie gaben ihm die Wohnung zurück, das war 1941.“ 

Die Entscheidung: Die Kinder müssen versteckt werden

Sonia und ihre Schwester gingen wieder in ihre Schule, aber sie mussten nun den gelben Stern tragen, das Zwangskennzeichen, das die Nazis für Juden eingeführt hatten.

„Meine beste Freundin, eigentlich ein intelligentes Mädchen, fragte mich, warum ich diesen Stern trage. Ich sagte: ‚Ich muss, ich bin jüdisch!‘

Meine beste Freundin erwiderte: ‚Aber ich mag keine Juden, ich mag dich nicht mehr!‘

Das hat mich so verletzt. Ich lief nach Hause zu meiner Mutter, sagte, es sei alles ihre Schuld und dass ich das nicht tragen will, dass ich nicht jüdisch sein will. Das war 1942.“

Diese Erfahrung war zu viel für den Vater, er entschied, dass die Kinder versteckt werden sollen. Er rief die Leiterin eines Sommerlagers an, die zusagte, sich um die Mädchen mit falschen Identitäten zu kümmern.

„Meine Mutter packte unsere Koffer und weinte, dann verabschiedeten wir uns, ‚Tschüß Mama, tschüß Papa'… Es ist unglaublich, wenn ich darüber nachdenke. Könnte ich das mit meinen Kindern, würde ich das aushalten?

Ich wusste nicht, wo meine Eltern waren, sie haben sich in einem anderen Dorf versteckt. Und die Lehrerin sagte uns ganz eindringlich, dass wir den anderen Kindern nichts sagen dürfen. Aber nach dem Sommer gingen die anderen Kinder und nur wir blieben zurück. Das fiel wohl auf, denn eines Tages stand die Gestapo vor der Tür und sagte, sie wissen, dass zwei jüdische Kinder auf dem Gelände versteckt werden und dass sie uns loswerden soll. Sie kontaktierte meinen Vater und er musste uns abholen.“

Die beiden Schwestern lebten dann ein paar Monate bei den Eltern im Versteck, und der Vater fuhr weiterhin regelmäßig nach Brüssel, Geld zu verdienen.

„Eines Morgens verabschiedete er sich von meiner Mutter und fuhr los. Es war das letzte Mal, dass wir ihn sahen“, sagt Sonia.

„Wir wussten nicht, was wir tun sollen, als er abends nicht zurückkam. Am nächsten Tag nahm meine Mutter mich an die Hand und wir fuhren nach Brüssel, um nach ihm zu suchen. Meine Schwester blieb im Haus. Natürlich haben wir ihn nicht gefunden. Wir fuhren wieder nach Hause, und als wir ankamen, stand das halbe Dorf am Bahnhof. Sie hatten auf uns gewartet und warnten uns, dass wir nicht zurück ins Haus gehen sollten – die Gestapo war da.“

„Der Hausbesitzer hatte meine Schwester gerettet, sie spielte gerade im Garten, als die Gestapo kam. Und er brachte sie ins Nachbardorf zu seinen Eltern, wo sie versteckt wurde. Ich wurde in ein Kloster gebracht, wo ich versteckt wurde.

Meine Mutter war ganz alleine. Soweit ich weiß, war sie drei Tage lang alleine in einem Park. Dann ging sie zur Schwester meines Vaters, die in Brüssel versteckt war. Dort blieb meine Mutter und überlebte.

Die Schwester meines Vaters wurde gefangen genommen, als sie einkaufen wollte und auf der Straße war.

Meine Schwester und ich kamen zurück in das Sommercamp, wo wir unter falschen Namen 18 Monate verbrachten. Sonia klang zu fremd, also war ich von da an ‚Michelle‘. Wenn man zehn Jahre alt ist, ist das gar nicht so einfach. Manchmal habe ich nicht reagiert, wenn sie mich ‚Michelle‘ riefen.“

Die Suche nach dem Vater 

Erst nach der Befreiung Belgiens wird die Familie wieder zusammengeführt. Doch noch immer gibt es vom Vater keine Spur. 

„Als die Amerikaner kamen, das war großartig, als sie Brüssel befreiten, kam meine Mutter sofort zu uns und holte uns ab.“ 

In der jüdischen Gemeinde in Brüssel wird ein Aushang mit Namen von Überlebenden aufgestellt, doch der Name des Vaters ist nicht dabei. „Wir fragten Leute, die Auschwitz überlebt hatten und nach Belgien zurückgekehrt waren: Erinnert ihr euch an Shaul Birnberg? Aber niemand kannte ihn. Es gab keine jüdische Familie in Belgien, die nicht jemanden verloren hat, ein Kind, einen Elternteil, einen Onkel …“ 

Erst viele Jahre später, als Sonia Kam zum ersten Mal nach Israel reist, findet sie heraus, was mit ihrem Vater geschehen war. In dem Archiv des Holocaust-Museums Yad Vashem in Jerusalem findet sie seine Akte: 

„Als die Gestapo ihn greifen wollte, rannte er davon. Dann schossen sie auf ihn, trafen ihn am Bein. Deshalb war er verwundet, als er in Auschwitz ankam, und nicht arbeitstauglich, obwohl er ein gesunder 36 Jahre alter Mann war. Also wurde er nur drei Tage nach seiner Ankunft ermordet“, erzählt Sonia Kam. 

„Ich liebte meinen Vater sehr und ich erinnere mich noch gut an ihn. Er war ein gut aussehender Mann, er war lustig und immer lieb zu seinen Töchtern. Meine Mutter wurde 91 Jahre alt! Er hätte sicher auch ein langes Leben gehabt.“ 

In New York trifft sich Sonia Kam jede Woche mit ihren Freundinnen. Alle haben den Holocaust überlebt, alle haben jemanden verloren.

Und bei jedem Treffen kommen sie auf die Familiengeschichten zu sprechen. 

Keine der Freundinnen konnte glauben, dass Sonia mit 86 Jahren an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrt. Was sie nach ihrer Reise berichten wird? „Ich werde ihnen erzählen, dass die Geschichte hier überall ist. Die Deutschen haben es nicht vergessen.“

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