Tal Getritman / 32 Jahre

Süße, das ist unter deiner Würde

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Es tut mir wirklich leid. Ich verstehe nicht, warum du die Augenbrauen hochziehst. Ich denke nicht, dass es nicht okay ist! Ich darf das. Mir ist es erlaubt, meine verfluchte Jungfräulichkeit loszuwerden, mir ist es erlaubt, diese Gelegenheit zu ergreifen. Du bist ja keine Jungfrau mehr, das weiß die ganze Schule, Iris ist schon längst keine Jungfrau mehr und etwa die Hälfte der Mädchen unseres Jahrgangs nicht. Offenbar hat jede einen Freund. Ihr habt euch pärchenweise und mit euren Freunden arrangiert, amüsiert euch in den Pausen prächtig miteinander, hängt Freitagabend, wenn ihr ausgeht, an ihren Hälsen. Ich habe keinen Freund! Nicht mal einen in der Phantasie. Mit mir will keiner schlafen, auch wenn an und für sich alle wollen und ich natürlich auch. Gönne es mir, freue dich für mich, versteh doch mal … Es ist nicht so einfach, vom ganzen Jahrgang die letzte Jungfer zu sein. Mir ist es erlaubt, mit einem Deutschen zu schlafen!

Mit diesen Worten liege ich Ortal in den Ohren, die in meiner Klasse und in der Delegation des Jugendaustauschs zwischen den Städten Netanya-Dortmund ist. Sie soll mich bloß nicht daran hindern, zu tun, woran ich ununterbrochen denken muss.
Der Bus fährt langsamer, nähert sich dem Konzentrationslager Buchenwald. Bald können wir über diese Dinge nicht weiterreden. Mein Herz ist kurz vorm Zerspringen. Ich will Ortal noch mehr über Robert erzählen. Er ist groß. Blond. Kompakt. Er hat nach oben geschwungene Wangenknochen wie einer, der weiß, was er wert ist. In meinen Augen ist er der tollste Mann, den ich je gesehen habe. Und was am wichtigsten ist – er will mich!

Durchs Fenster erblicken wir große Gebäude, Wände mit spektakulären Graffiti, die von weiten offenen Räumen in Grün- und Brauntönen abgelöst werden, deren Ende nicht abzusehen ist. Deutschland ist sehr schön. Es ist farbenfroh und sieht so gar nicht dem Deutschland ähnlich, wie es immer auf Fotos und in Filmen aussah, kein Hinweis auf die Finsternis, die die Schilderungen begleiteten.

Dortmund ist wesentlich größer und beeindruckender als Netanya. Die Cafés und Restaurants auf der Straße unterscheiden sich von denen in der Fußgängerzone unserer Stadt. Alles wirkt moderner und sauberer. Die Häuser und Gebäude sind sich ähnlich und scheinen bis ins Detail geplant. Die Straßen sind breit, sodass alle Platz zum Laufen haben. Würden auf ihnen die Surfer von Netanya laufen, könnte ich mir mein Leben an diesem Ort tatsächlich vorstellen.

„Süße, das ist unter Deiner Würde.“ Ortal nimmt ihren Kaugummi aus dem Mund und rollt ihn in der Hand hin und her. „Du bist die Enkelin von Schoah-Überlebenden. Meinst du nicht, dass sein Großvater deiner Familie was angetan haben könnte?“ Sie macht sich weiterhin an dem gelben Kaugummi zu schaffen, an dem ihre Spucke klebt.

Der Bus fährt schnell. Ich vertiefe mich in den Kaugummi, als wäre ich dieses Ding. Sitze eingequetscht zwischen Bauch und Beinen, bin klumpig, klebrig und abstoßend.

„Weißt du, es gibt da solche Geschichten über Israelis, die herausgefunden haben, dass der Großvater ihres Gastgebers Nazi war, der sozusagen, du weißt schon … dass es da eine Verbindung gab.“ Daraufhin drückt sie den Kaugummi platt und klebt ihn unter ihren Sitz.

***

Ich hatte Robert während meiner ersten beiden Tage in Deutschland kennengelernt, als er zu meiner Gastgeberin Eva nach Hause kam. Sie ist eine Deutsche meines Alters. Schon mit vierzehn hatte sie zum ersten Mal mit einem Jungen geschlafen, „weil es in Deutschland offener zugeht“, hatte sie mir erklärt. Sie hält es ebenfalls für eine nette Idee, dass ich meine Jungfräulichkeit hier in Deutschland verlieren würde. „Das ist total wichtig, dass ihr das macht. Das hat immense Symbolkraft für die nachfolgende Generation von Deutschen und Juden“, hatte sie gesagt und Stufe für Stufe, bis ins kleinste Detail  geplant.

„Ich werde dich schminken und dir ein rosafarbenes Satinkleid anziehen. Ich habe eine Lavendel-Kerze, das wird dich beruhigen. Aber es muss unbedingt am Sonntagmorgen passieren, wenn meine Eltern in der Kirche sind. Und mach die Fenster zu, damit euch keiner sieht und du das Gefühl hast, dass es dunkel ist.“

In meiner Kindheit hatte meine Großmutter behauptet, dass sie keine deutschen Produkte kaufe, weil diese verfluchten Deutschen ihre Familie umgebracht hatten. Aber jedes Schuljahr, wenn ich versetzt worden war, hatte sie mir ein neues Federmäppchen mit Schreibzeug gekauft. Alle Teile, einschließlich des Radiergummis waren in Deutschland hergestellt worden. „So ein robuster Radiergummi wird all deine Rechtschreibfehler wegradieren“, sagte sie voller Begeisterung. Und ihr Arm mit der eintätowierten Nummer radierte mit diesem Radiergummi energisch alle Fehler weg … Ein deutscher Radiergummi war also erlaubt und ein deutscher Mann verboten? Schließlich hatte ich von dem Moment an, da ich Robert gesehen hatte, jene Vitalität wahrgenommen, die meinem deutschen Radiergummi eigen wahr. Robert würde in mir die Jahre der Erniedrigung, die Minderwertigkeitsgefühle gegenüber den Mädchen meines Jahrgangs ausradieren. Robert wäre es, der aus mir eine kleine Frau machen würde. Er hatte das Recht, den lang gehüteten Schatz zu ernten.

Der Bus hält vorm Eingang zum Lager. Von Anspannung und Panik getrieben steigen wir vorbildlich still aus dem Bus und teilten uns paarweise auf. Jeder Israeli geht mit seinem deutschen Gastgeber. Eva hält meine Hand ganz fest. Sie ist unglaublich aufgewühlt und meine Hand droht aus ihrer schweißnassen Hand zu gleiten. Wir gehen durch das Tor des Lagers, das ein einziger grüner Teppich war, der mir Lust macht, mit Robert darauf herumzurollen. Jede Menge alter Gebäude, in die wir uns verdrücken könnten, ohne dass es einer bemerken würde. Ein Guide beginnt mit heftigem deutschen Akzent etwas auf Englisch zu erzählen, was keiner versteht. Er führt uns auf der festgelegten Route, die die Gefangenen zu absolvieren hatten, wenn sie hier eintrafen. Es gelingt nicht, mir das Grauen auszumalen, ich begreife partout nicht, was er da faselt. Es sei kein zielgerichtetes Vernichtungslager gewesen, meint er, nicht alle Gefangenen seien Juden gewesen. Und was machen wir dann hier? In der Zeit könnte ich meine Beine rasieren, mir die Nägel lackieren. Ich habe keine Geduld und viel Zeit bleibt mir auch nicht mehr in Deutschland. Ich will schleunigst zurück nach Dortmund!

Ich betrachte die Fotos mit den SS-Offizieren. Diese Fotos hängen im ganzen Lager und ich kann ihre Bedeutung nicht erfassen. Ich habe nur Roberts Bild vor mir. Auf einmal vermischen die Dinge sich. Ich sehe die Fotos an und darauf ist Robert, der mich ansieht. Mein Herz schlägt schneller. Eine gewaltige Hitzewille steigt in mir auf und Schweiß bricht aus sämtlichen Poren meines Körpers. Robert, dieser tolle Kerl, ich will ihn. Gott soll endlich dafür sorgen, dass wir dieses überflüssige Lager verlassen.

Ein Mädchen beginnt zu weinen. Es ist Eva, ihr setzen die Fotos zu, die die jüdischen Gefangenen in ihrer Baracke zeigen. Sie sind ausgemergelt, leichenblass. Ihre Augen, die in die Kamera blicken, liegen in tiefen Höhlen. Evas Weinen löst auch Tränen bei den anderen Deutschen der Delegation aus.  Das kleine Museum füllt sich mit noch mehr Tränen, auch bei Schülern der israelischen Seite. Hefziba, die Lehrerin, legt den Arm um einen Schüler, den es besonders mitnimmt. Ich bringe nicht eine Träne hervor. Ich will in die Zukunft blicken, in der Robert mich in Israel besucht, sich in das Land verliebt und sich entschließt, Dortmund zugunsten von Netanya aufzugeben. Danach finden wir heraus, dass seine Großeltern im Krieg Juden versteckt haben und meine Großmutter wird ihn lieben und sagen: „So ein Mann wird den ganzen Unsinn aus deinem Kopf vertreiben.“ Und dann wird er zum Judentum übertreten und Surfen lernen. Zur Hochzeit werde ich ein rosafarbenes Satinkleid tragen und wir werden eine neue Generation von deutschen Juden gründen.

***

Ich bin bei der Zeremonie, schaue zu den anderen, die alle weinen. Ich versuche mir einige Tränen abzuringen. Doch es gelingt mir nicht. Also schließe ich die Augen, damit sie denken, dass ich weine.

Als ich die Augen öffne, ist die Delegation und auch der Guide verschwunden. Keine Eva – nur die Juden von den Fotos. Und meine Großeltern sind da. Ein wenig jünger als heute. Sie sind dürre Gestalten. Sie rennen nach den Kommandos von Robert, der in seinem warmen Wintermantel herumschreit. In der Hand hält er ein Gewehr. Verflucht sie. Ich versuche zu schreien, aber ich habe keine Stimme. Ich flehe Robert nur an, damit aufzuhören! Dass er das nicht tun, meine Großeltern verschonen soll. Sie sind ein Teil von mir, ich liebe sie. Nein, Robert, schieß nicht. Verfluche sie nicht. Wie soll ich denn sonst mit dir schlafen und dir in die Augen schauen!? Robert schießt auf meinen Großvater. Großmutter steht da, krampft sich vor Schmerz zusammen, sieht, wie ihr Geliebter stirbt. Sie hebt den Kopf und schaut zu mir, sieht mich eindringlich an und schnalzt laut mit der Zunge.

Mir wird übel, ein bitterer Geschmack steigt in meiner Kehle auf, blockiert Nase und Ohren. Wo bin ich überhaupt? Ich schaue mich um und nun stehen wieder alle neben mir. Genau in dem Moment gehe ich in die Hocke und übergebe mich. Alle nehmen es wahr, singen aber weiter die israelische Nationalhymne. Und während ich auf dem Boden kauere, wird mir klar, dass ich Robert nicht treffen will. Ich will nicht, dass er nach Netanya kommt. Ich will auch nicht im Geringsten, dass er zum Judentum übertritt. Und rosafarbene Satinkleider habe ich schon immer gehasst. Und mein neuer Radiergummi wird aus China kommen.

Übersetzung aus dem Hebräischen: Ulrike Harnisch


Tal Getritman, 32 Jahre
war erstmalig im Jahr 2000 in Deutschland, als sie sich einer Jugenddelegation anschloss, die Netanyas Partnerstadt Dortmund besuchte. Danach fuhr sie ein weiteres Mal im privaten Rahmen nach Deutschland.