Donnerstag, 18. April 2024

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Die En-Gedi-Schriftrolle
Rettung vor der Klippe des Verlustes

Vor über 45 Jahren fand man sie in Israel, genauer in der Wüste Negev: Die En-Gedi-Schriftrolle. Archäologen hielten sie für ein verkohltes Stück Holz, doch sie ist ein bedeutendes historisches Dokument. Ein Jahr arbeiteten Forscher daran das gut 1500 Jahre alte Papyrus virtuell zu entpacken und lesbar zu machen. Mit großem Erfolg.

Von Volkart Wildermuth | 22.09.2016
    Die virtuell komplett aufgewickelte Schriftrolle von En-Gedi
    Es dauert ein Jahr bis man ihrem Inhalt zugänglich werden konnte. Nun ist das Geheimnis der En-Gedi Schriftrolle gelüftet. (Leon Levy Dead Sea Scrolls Digital Library)
    "Welcher unter euch dem Herrn ein Opfer tun will, der tue es von dem Vieh, von Rindern und Schafen."
    Das ist die Übersetzung Martin Luthers. Aber der hebräische Urtext den er verwendet hatte, ist genau so auch auf der Schriftrolle von En-Gedi zu lesen.
    "Die sieht immer noch aus wie ein Block Holzkohle und als dann der Scan zurückkam, sah er aus wie eine Schriftrolle. Sie können sich die Freude im Labor nicht vorstellen, unglaublich. Wir sind fast vom Stuhl gefallen."
    Geradezu symbolisch war für Pnina Shor, dass der Text auf der verbrannten Schriftrolle ausgerechnet von einem Brandopfer handelt. Die Leitern des israelischen Projekts für die Schriftrollen vom Toten Meer hatte die verkohlte und gequetschte Schriftrolle in einen Hochleistungs-Röntgen-Scanner gelegt. Die Festplatte mit den Daten schickte sie dann an den Informatiker Brent Seales von der Universität von Kentucky, denn, wie er sagt, ein Scan alleine nützt gar nichts:
    "Die Magie liegt nicht im Scan, sondern in der Datenverarbeitung. Bei diesen Rollen sind die einzelnen Lagen verbacken, völlig zerknittert. Das muss man wieder auseinanderfieseln."
    Die digitale Entschlüsselung dauerte ein Jahr
    Ein Jahr hat das gedauert. Erst versuchte ein Computerprogramm, in dem Datenvolumen die einzelnen gerollten Lagen zu identifizieren. Dann wurde ein Gitter aus virtuellen Dreiecken darübergelegt und darin die Spuren der Tinte markiert. Schließlich konnte das Gitter im Rechenraum flach gezogen werden. So entstanden einzelne Puzzelteilchen des ursprünglichen Pergaments, die das Team in mühevoller Handarbeit zusammensetzte. Schnell erkannte Brent Seales, da sind Buchstaben und sogar Abdrücke von Hilfslinien, die der Schreiber vor 1500 Jahren gezogen hatte. Aber niemand im Labor in Kentucky sprach Hebräisch, konnte den Text verstehen. Also wurden die Daten zurück nach Israel geschickt. Dort machte sich Michael Segal von der Hebräischen Universität Jerusalem an die Analyse:
    "Es handelt sich um das Buch Levitikus, das dritte Buch Moses. Wir waren verblüfft, dass die En-Gedi-Schrift bis hin zu den Buchstaben und Absätzen identisch ist mit dem mittelalterlichen Masoretischen Text, der für die Juden bis heute gültig ist."
    Die Schriftrolle aus dem sechsten Jahrhundert gleicht mittelalterlichen Texten bis zur Erfindung der Druckerpresse
    Die verkohlte Schriftrolle aus En-Gedi
    Die verkohlte Schriftrolle aus En-Gedi (Leon Levy Dead Sea Scrolls Digital Library / S. Halevi)
    Die mit 2000 Jahren deutlich älteren Schriftrollen vom Toten Meer zeigen demgegenüber Abweichungen. Den Text von En-Gedi hält der Bibelforscher Emanuel Tov, ebenfalls von der Hebräischen Universität Jerusalem deshalb für ein Bindeglied:
    "Das ist ein klares Zeichen der Kontinuität. Der Text dieser Schriftrolle aus dem sechsten Jahrhundert ist identisch mit demjenigen auf Schriftrollen, die bis zur Erfindung der Druckerpresse genutzt wurden. Das kann kein Zufall sein. Die Rolle von En-Gedi ist ein Beweis dafür, dass die mittelalterlichen Texte tiefe Wurzeln haben. Nichts hat sich über 2000 Jahre geändert."
    "Zerstörung und Zersetzung, das ist der natürliche Ablauf"
    Mit der neuen Computertechnik zum virtuellen Auspacken lassen sich prinzipiell auch andere Scans von verborgenen Texten lesbar machen, etwa von ungeöffneten Briefen. Dafür dürften sich Sicherheitsbehörden interessieren. Brent Seales will sich aber vor allem auf andere empfindliche historische Dokumente konzentrieren:
    "Zerstörung und Zersetzung, das ist der natürliche Ablauf. Aber manchmal kann man einen Text von der Klippe des Verlustes zurückholen."